Die Neuvermessung der Kindheit in der psychoanalytischen Klinik und Theorie.
Irene Berkel (Innsbruck)
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wuchs im Zuge der biowissenschaftlichen Fortschritte das Interesse an Reproduktion und Sexualität, an nicht-reproduktiven Formen von Sexualität und am Inzesttabu. Die Entdeckung der infantilen Sexualität durch Freud, den Begründer der Wissenschaft vom Unbewussten, galt als revolutionär, da sie sich gegen die romantische Vorstellung von der Unschuld des Kindes wandte. Bis zu Freud galt sexuelles, sogenanntes frühreifes Verhalten entweder als Manifestation einer sexuellen Verführung oder der Proletarisierung im Rahmen der Industrialisierung. Freuds Entdeckung der Bedeutung der infantilen Sexualität für die Subjektkonstitution war das Resultat klinischer Erfahrungen und erfolgte historisch an der Schwelle, da das Allianzdispositiv seine ökonomische wie politische Bedeutung einbüßte und das Sexualitätsdispositiv die bürgerliche Familie besetzte (Foucault). Freud bringt die infantile psychosexuelle Entwicklung des Kindes in ein Verhältnis zur Anerkennung des Inzesttabus (Ödipuskomplex). Die Leiden der Neurotiker sind auf infantile Konflikte zurückzuführen, die in den Symptomen als Verdrängtes wiederkehren, weshalb den NeurotikerInnen die Einnahme ihrer symbolischen Position im Tableau der Generationen misslingt. In Abgrenzung zu C.G. Jung und Alfred Adler konzeptualisiert, dogmatisiert Freud den Ödipuskomplex zum Schibboleth der ‚wahren‘ Psychoanalyse und verleiht ihm jene Normativität, von der sich die Psychoanalyse bis heute nur schwer befreien kann. Der Vortrag diskutiert die Entdeckung der infantilen Sexualität im Rahmen einer Dialektik von Ent- und Remythologisierung sowie von Befreiung und Zwang.
Moderation: Alfred Weiss, Salzburg