Nach 10 Monaten Krieg: Eine kleine moralische, und eine sachliche Bilanz

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  • 10 Monate Krieg: Bilanz sachlich und moralisch
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Nach 10 Monaten Krieg:
Eine kleine moralische, und eine sachliche Bilanz

Nach 10 Monaten Krieg, dem dieses Jahr fast alle Beiträge in diesem Podcast gewidmet waren, nachdem sich der Kriegsschauplatz derzeit offenbar zu einer Art Stellungskrieg verfestigt, nun zusammenfassende Würdigungen. Einstieg über die Leistungen der Verantwortungspresse, entlang einer skeptisch-kritischen Betrachtung einer Journalistin.

Andrea Böhm, zeitonline, 22.05.2022: Ich würde gern nicht über Putins Krieg schreiben. Das wird nicht klappen – und genau das ist der Punkt.“
(https://www.zeit.de/politik/familie/2022-05/humanitaere-krisen-ukraine-krieg-berichterstattung-5vor8?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F)

Im April bin ich zwei Wochen durch die Ukraine gereist. Ich war geschockt von den Gräbern notdürftig verscharrter Opfer und den zerstörten Wohnhäusern. Ich war beeindruckt von einer kreativen, mutigen Zivilgesellschaft, die seit Kriegsbeginn umkämpfte Städte versorgt und Evakuierungen organisiert. Ich war berührt von den jungen Männern und (wenn auch wenigen) Frauen, die bereit sind, dieses Land mit der Waffe zu verteidigen.
Gleichzeitig spürte ich ein wachsendes Unbehagen mit meiner eigenen Branche, mit den Trauben von Fotografen und Reporterinnen (mich eingeschlossen) in Butscha und Irpin, mit der Welle von Titelgeschichten, Sondersendungen und Schlagzeilen über diesen Krieg. Ich bin keine Ukraine-Spezialistin, auch keine Osteuropa-Expertin. Ich beschäftige mich mit Ländern in Afrika und Nahost. Und mit jedem weiteren Tag in Kiew, Butscha, Irpin oder Tschernihiw wurde mir klarer, welche existenziellen Krisen in diesen vermeintlich fernen Regionen nun vollends von unserem medialen Radarschirm verdrängt werden.
Der momentan tödlichste und brutalste Krieg findet nicht in der Ukraine statt, sondern in Äthiopien. Nach Schätzungen von Experten sind dort seit Ausbruch der Kämpfe zwischen Rebellen und Regierung im November 2020 500.000 Menschen getötet worden – durch Waffengewalt, absichtlich herbeigeführten Hunger oder weil die medizinische Versorgung zusammengebrochen ist. …
Die größten humanitären Krisen der Welt spielen sich in diesen Monaten nicht in Osteuropa ab, sondern in Ländern wie dem Jemen oder Somalia. Im Jemen brauchen 23 Millionen Menschen, fast drei Viertel der Bevölkerung, Nothilfe, um zu überleben. In Somalia hält die längste Dürre seit Jahrzehnten an und gefährdet das Überleben von Hunderttausenden.
Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen – und damit tappe ich genau in die Falle, die mich am Krisenjournalismus so oft zweifeln lässt: die nach den Gesetzen des Marktes funktionierende Aufmerksamkeitsökonomie, der sich nicht nur meine Zunft, sondern auch Hilfsorganisationen unterwerfen. Schlagzeilen wie Spendengelder sind eine begrenzte Ressource, um die mit möglichst dramatischer Sprache und emotionalisierenden Bildern konkurriert wird.“

Ukraine beschlagnahmt Aufmerksamkeit zulasten Hungernder?

Frau Böhm hält offenbar den Westen oder wenigstens die USA für eine Art von „Hilfsorganisation“, eine Art von NGO, die leider, leider viel zu sehr einer „nach den Gesetzen des Marktes funktionierenden Aufmerksamkeitsökonomie“ unterliegt; was dazu führt, nachdem der „momentan tödlichste und brutalste Krieg“ ebenso wie die aktuell „größten humanitären Krisen der Welt“ vom „Krisenjournalismus“ vernachlässigt, daher „von unserem medialen Radarschirm verdrängt“ werden – was womöglich über den Mangel an diesbezüglichen „Schlagzeilen“ auch die „Spendengelder“ mindert; diese vielleicht auch umleitet, von den größten zu weniger großen humanitären Krisen, als da wäre – nach ihrer vergleichenden Skala – offenbar die Ukraine. Waffenlieferungen sind in diesem leicht verschrobenen Weltbild offenbar etwas Ähnliches wie mildtätige Spenden oder Hungerhilfe, beides entlang der „Aufmerksamkeitsökonomie“, die der „Krisenjournalismus“ bewirtschaftet. Nun, diese Aufmerksamkeitsökonomie unterliegt keineswegs den Gesetzen eines ökonomischen „Marktes“, der Konkurrenz um die schrecklichsten Bilder, sondern den Gesetzen des Imperialismus, den Kriterien der Weltpolitik. Mal angenommen, rein hypothetisch, der Westen oder die USA würden einen der Warlords in Äthiopien zum unerträglichen Autokraten ernennen, und einen anderen zum Hoffnungsträger der weWe, der westliche Werte, und zum Überwinder der ortsüblichen „Korruption“ stilisieren, und das als unmissverständliche Ankündigung anbringen, nun endlich und ernstlich mit Geld und Waffen in den Krieg einzusteigen – stante pede würden die erwähnten „Trauben von Fotografen und Reporterinnen“ in der Region einfallen wie sonst nur die ortsüblichen Heuschrecken. Sofort würden sie uns mit den berühmten „emotionalisierenden Bildern“ in den Bann ziehen – um uns erschöpfend über Recht und Unrecht zu informieren. Dann würde man auch über die verzweifelten Versuche einer „Zivilgesellschaft“ informiert, das Überleben irgendwie zu organisieren, und ebenso über die tapferen jungen Männer und die vermutlich unterrepräsentierten tapferen jungen Frauen, die für ihre jeweilige Sache kämpfen. Nein, nicht nur für ihre Sache, denn die wesentliche Botschaft wäre, dass sie „für uns“ kämpfen, irgendwie, vielleicht auch mehr indirekt, nämlich für die berühmten „weWe“ – die westlichen Werte, denn nur deswegen verdienten sie unsere Unterstützung! Damit wäre die wesentliche moralische Vorentscheidung erledigt, denn an den jeweiligen Taten bzw. Gräueltaten könnte man die Parteien einfach nicht unterscheiden, über Leichen gehen in dem Szenario alle Parteien, und überaus tapfere Kämpfer wären auch auf allen Seiten der Fronten anzutreffen. Diese Vorentscheidung gilt auch für anfallenden Opfer, über die uns die tapferen Männer und Frauen ins Bild setzen würden.

Politik und Verantwortungspresse kennen aktuell ja nicht nur den inzwischen – nach einigen obligatorischen Bedenken – etablierten Flüchtlingsrassismus, also den Unterschied zwischen den wertvollen Flüchtlingen aus der Ukraine, und den nicht so wertvollen Opfern von Krieg und Unterdrückung aus Afghanistan und Syrien. (Eine aktuelle österreichische „Flüchtlingskrise“ besteht ausschließlich aus letzteren.) Schon immer etabliert war der analoge – ich nenn’ es halt mal so –, Leichenrassismus. Es gibt nämlich wertvolle und nicht so wertvolle Tote. Über die wertvollen wird man ausführlich informiert, keineswegs nur darüber, dass sie in ihren „Gräbern notdürftig verscharrt“ wurden. Die wertvollen Toten waren in der Regel auch wertvolle Individuen, sie werden mit Namen und Biographie vorgestellt, gern auch mit ihren nun hinfälligen Wünschen und Träumen. Die erfährt man von ihren tapferen trauernden Angehörigen, die unter Tränen erzählen, was die Toten für sie bedeutet haben, was sie noch vorhatten und wie sehr sie den Trauernden fehlen. Diese wertvollen Toten erteilen obendrein – man glaubt es kaum – noch aus dem notdürftigen Grab heraus Aufträge, die sie durch die Verwandten und / oder durch ihre Kriegsherrn ausrichten lassen: Sie verlangen, dass die Schlächterei, der sie zum Opfer gefallen sind, weitergeht und noch mehr Leichen produziert – denn ohne den Endsieg wären sie „umsonst“ gestorben, und das können diese Toten nicht leiden, und den Kriegsherrn nicht durchgehen lassen.

Die nicht so wertvollen Leichen, etwa die, die der Westen am laufenden Band im Nahen und Mittleren Osten oder am Balkan produziert hat, die haben „wir“ hier im Reich der westlichen Verantwortungspresse so ausführlich und so liebevoll kommentiert nicht kennenlernen dürfen; die weniger wertvollen Leichen sind bloß tot, und finden in der Regel nur quantitativ Erwähnung, als Teil einer Masse. Auch die Leichen im von den prorussischen Separatisten gehaltenen Teil des Donbass – die respektable Zahl differiert mit den Quellen –, die von ukrainischen Milizen und der ukrainischen Armee vor dem Krieg produziert wurden, die hat man im Westen nicht auf diese Art und Weise vorgestellt. In diesen Separatistengebieten und in Russland natürlich schon – da wurden sie nämlich auf geradezu ekelhafte Weise für Propagandazwecke ausgeschlachtet und darüber noch im Tod missbraucht … So geht Propaganda mit Leichen, und die freie Verantwortungspresse steht da ihren „totalitären“ Pendants nicht nach. Das gezielte Verschweigen der Verantwortungspresse bezieht sich übrigens gar nicht primär auf die weniger wertvollen Leichen und deren trauernde Angehörige. Der wesentliche Gehalt des Verschweigens besteht in der Vorführung der wertvollen Toten ausschließlich als Privatpersonen, die doch bloß ihren Interessen und Obliegenheiten nachgehen wollten, und völlig grundlos umgebracht wurden. Gezielt verschwiegen wird, als was sie genommen und in welcher Eigenschaft im Krieg getötet wird: Als Mittel, rein als Menschenmaterial einer feindlichen Staatsmacht wurden sie zu Zielscheiben; völlig wurscht, ob sie als Individuen sich da überhaupt betroffen sahen und sich beteiligen wollten.

Der Imperialismus an Ort und Stelle

Noch einige Bemerkungen zu den von Böhm erwähnten Kriegen und Krisengebieten, die für den Westen momentan nicht so wichtig sind, weswegen die Schlagzeilen derzeit ohne sie auskommen müssen: In Äthiopien tobt ein Bürgerkrieg zwischen der Zentrale in Addis Abeba und (hauptsächlich, aber nicht nur) der abtrünnigen Provinz Tigray. Mit anderen Worten, die Zentrale lässt für das kämpfen, was in der Ukraine derzeit das allerheiligste Heiligtum ist – für ihre „territoriale Integrität“; und die Rebellen kämpfen für das, was im Lichte der weWe manchmal auch heilig ist: für ihr „Selbstbestimmungsrecht“. Nach westlicher Nomenklatur sind das durchaus erstklassige Kriegsgründe auf allen Seiten, aber Russland ist halt nicht wirklich involviert, offenbar auch keine andere „rivalisierende“ Großmacht. Das macht für uns aufgeklärte Westler die Lage sehr unübersichtlich und das moralisch Einordnen diffizil, sogar wenn auf der einen Seite – in Addis Abeba – ein Nobelpreisträger den Chef macht. Solange keine eindeutige Orientierung durch die befugten westlichen Machthaber erfolgt, müssen „wir“ wohl davon ausgehen, dass die Kriegsgründe der dortigen Parteien doch nicht so erstklassig sind, sondern aus Machtgier, Stammesrivalitäten, Korruption und anderen nicht so glanzvollen Motiven erwachsen.

Im Jemen tobt nach allgemeiner Einschätzung eine Art Stellvertreterkrieg, dessen Parteien von der Unterstützung auswärtiger Mächte leben, angeblich durch den Iran die eine Seite, und ganz sicher durch die Golfstaaten und Saudi-Arabien die andere. Letzteres Land wieder ist ganz ohne „Krisenjournalismus“, „Aufmerksamkeitsökonomie“ und „Spendengelder“ einer der größten Adressaten amerikanischer Waffenlieferungen und hat diesbezüglich sicher mehr eingekauft als die Ukraine – die Schlächterei im Jemen lebt also wieder mal sehr vom westlichen Interesse an der Gegend, und das richtet sich nun mal nicht nach der Zahl der Journalisten in einer Gegend. Das hat allerdings auch die zitierte Berichterstatterin bemerkt, man kann – wenn man denn schon den Westen oder die USA für eine Art von Hilfsorganisation gegen Kriege und Krisen halten will – wieder beruhigt sein. Die Oberaufseher registrieren genau die Lage vor Ort und behalten die chaotischen Zustände im Auge, weswegen man trotz allem Augenschein wohl – hoffnungsvoll – von einem sehr schwierigen „Friedensprozess“ erzählen kann:

Im Fall Jemen haben die UN maßgeblich dazu beigetragen, dass es zu einer Waffenruhe kam. Im Fall Äthiopien dürften verhängte und angedrohte neue US-Sanktionen zur Gesprächsbereitschaft der Regierung beigetragen haben. Von einem echten Friedensprozess sind beide Länder noch weit entfernt, Äthiopien weiter als der Jemen.“

Dem könnte man auch entnehmen, dass die wüsten Zustände in Äthiopien und im Jemen nicht der Abwesenheit der segensreichen westlichen Zuwendung geschuldet sind, einer Gleichgültigkeit gegenüber der Lage vor Ort, sondern dass die kämpferische Zuwendung der USA zu allen von ihnen ausgerufenen Übeln eben anderen Kriterien folgt, als der Behebung von Kriegen und Krisen nach den Bedürfnissen von Gutmenschen.

Die wiedervereinte „Eine Welt“: Kein Platz für Russland

Nach dem bekannten Diktum der Imperialismustheorie von Lenin konkurrieren die Großmächte um die „Aufteilung der Welt“ und geraten darüber aneinander. Dieses geflügelte Wort bezog sich damals auf die Inbesitznahme ganzer Kontinente durch die klassischen Kolonialmächte. Nach 1945 sind zum Stichwort „Aufteilung“ zwei Momente zu vermelden: Zum einen die Neuaufteilung der Welt durch die Umwandlung der Kolonien in von den Großmächten sorgfältig begleitete und überwachte unabhängige Staaten, durchgesetzt in Gestalt etlicher Blutbäder und Schlächtereien; und zum anderen der Vorwurf des Westens an die damalige Sowjetunion und ihren Ostblock, durch das „sozialistische Lager“ die Welt doch tatsächlich – geteilt zu haben. Der Vorwurf setzt natürlich einen Anspruch auf die ganze, ungeteilte Welt voraus, in Form der Unterordnung aller Staaten unter die westliche, von den USA 1945 gestiftete Weltwirtschafts- und Weltordnung. Mit der friedlichen Kapitulation der Sowjetunion war die Welt in diesem Sinn wiedervereinigt, als nun alle Staaten (Ausnahme: Nordkorea) die kapitalistische Wirtschaftsweise als ihre allein selig machende ökonomische Grundlage installiert hatten und auf dem Weltmarkt um dessen Erträge aus Produktion, Handel, Investition und Kredit konkurrieren. Der Kapitalismus war endlich „global“, und das damit aufkommende Schlagwort von der „Globalisierung“ – des Kapitals – hat darin sein materielles Substrat. Allerdings war für die USA wie schon seit 1945 erst recht selbstverständlich, dass es sich um ihr Werk und um ihre Ordnung handelt, die von ihnen zu überwachen und auf Missbrauch zu kontrollieren sei. Was heißt das?

Zwei Beispiele, der Iran und Venezuela, übrigens beides Ölstaaten; beide wollten sich keineswegs aus dem Reich der Globalisierung verabschieden, sondern in diesem behaupten. Im Iran hatten seinerzeit die Mullahs den damaligen Geschäftsführer der USA, einen gewissen Pahlewi, der sich für den Kaiser gehalten hatte, verjagt und ihre weitere Selbstbehauptung gegen dessen westliche Sponsoren und Gönner angesagt, die Unterstützung anderer unzufriedener Staaten und Bewegungen in der Region eingeschlossen. Dafür war der Weltmarkt aus US-Sicht nicht eingerichtet, ein militanter Anti-Amerikanismus ist also ein Missbrauch ökonomischer Erträge aus der Globalisierung, und daher durch ein ökonomisches Sanktionsregime samt hybrider Geheimdienstoperationen zu bekriegen. Und dann kamen die Mullahs glatt auf die Idee, sich die Voraussetzungen für die Bombe beschaffen zu wollen … Auch Venezuela unter dem General Chavez und seinem Nachfolgern will sich nicht aus dem kapitalistischen Weltsystem verabschieden, es wurde umgekehrt von den USA boykottiert, bis der Ölbedarf wegen des Wirtschaftskriegs gegen Russland eine Überprüfung der Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens nahelegt. Der General wollte – mit viel sozialistischer Rhetorik – die Öleinnahmen für den Aufbau der Nation durch Einrichtung sozialstaatlicher Elemente vorantreiben, und das wurde ihm und seinem Nachfolger übelgenommen und mit Sanktionen belegt. Der aufkommende spektakulärste Fall von Missbrauch ökonomischer Erfolge, in dem Fall durch das Ummünzen des nationalen, auf dem Weltmarkt erwirtschafteten Reichtums in politisch-militärische Stärke, ist anerkanntermaßen China, ebenfalls von schrittweise ausgebauten amerikanischen ökonomischen Sanktionen betroffen.

Und es ist ja wahr: In diese Weltfriedensordnung, in diese pax americana der Überwachung und Kontrolle durch ökonomische Sanktionen mit allfälligen Fortsetzungen in Richtung Krieg, da passt Russland wirklich nicht hinein. Wegen seiner geerbten Mittel, und wegen seiner geerbten bzw. erneuerten Ansprüche. Was die Mittel betrifft – im Unterschied zum Irak hat Russland „Massenvernichtungswaffen“. An diesem damaligen Vorwurf der USA ist ja weniger die Unwahrheit beeindruckend, sondern mehr der amerikanische Anspruch auf Wehrlosigkeit oder wenigstens auf maßlose waffenmäßige Überlegenheit der USA.

Mit seiner auf das weltweit zweitstärkste Atomwaffenarsenal gegründeten Abschreckungsmacht ist Russland der Ausnahmefall in der von den USA und ihren Verbündeten etablierten und gehüteten imperialistischen Weltfriedensordnung; Ausnahme in dem qualitativen Sinn, dass es seine Sicherheit, die Grundlage und Garantie seiner weltpolitischen Handlungsfreiheit, wirklich autonom definiert und durchzusetzen vermag; gegen das amerikanisch-westliche Abschreckungsregime. Diese Freiheit, Inbegriff der strategischen Weltmacht, des ersten und entscheidenden Inhalts russischer Staatsräson, verlangt unbedingte Kriegsfähigkeit und -bereitschaft gegen jede Infragestellung, insofern Krieg … Dieser Räson dient die Regierung nach ihrem pflichtschuldigen Ermessen, wenn und indem sie die Anlässe und Schauplätze definiert, an denen sie die Achtung ihrer Sicherheitsinteressen angegriffen sieht, und Gelegenheiten wahrnimmt, Respekt vor ihren freien Ermessensentscheidungen in weltpolitischen Affären zu erzwingen oder sicherzustellen. So jetzt in der Ukraine.“
(https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/rueckblick-auf-10-monate-krieg-ukraine)

Zum Schluss ein Interview mit dem kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro:

Frage: „Herr Präsident, ich möchte über den Krieg zwischen der Ukraine und Russland sprechen. Lula (der designierte brasilianische Präsident) hat kürzlich gesagt, dass der derzeitige ukrainische Präsident Selenskyj genauso verantwortlich ist wie der russische Präsident Wladimir Putin. …“
Antwort: „Ich gehe noch ein wenig darüber hinaus. Lateinamerika wurde bereits mehrfach überfallen. Erste Invasion: Spanien und Portugal. Aber von da an fielen die Franzosen, die Engländer und die Nordamerikaner ein. In der jüngeren Geschichte gab es eine ganze Reihe nordamerikanischer Invasionen. Wir haben im 21. Jahrhundert Invasionen im Nahen Osten erlebt: Irak, Libyen, Syrien.
Ich frage mich, warum es einige Invasionen gibt, die gut sind und begrüßt werden, während dieselben Leute, die diese Invasionen begrüßen, andere ablehnen. Gibt es gute Invasionen und schlechte Invasionen, oder gibt es eine Machtachse, die das eine oder das andere bestimmt und qualifiziert, die einen fördert und die anderen angreift, je nach ihrem eigenen geopolitischen Interesse?“
(https://www.nachdenkseiten.de/?p=91398) (Dort auch der link zum Interview auf youtube.)

Diese Antwort ist übrigens durchaus charakteristisch für Gegenden, die als frühere oder potentielle Opfer des Westens die Lage etwas anders sehen als der Mainstream in Europa. Warum es gute und schlechte Invasionen gibt, und welches geopolitische Interesse für die jeweils unterschiedliche moralische Einordnung verantwortlich ist, darüber informiert immerhin das neue „profil“ in ausführlicher Kürze: Wer sich gedanklich, ideologisch, real als Teil des Westens begreift – und das gilt für die Republik Österreich ebenso wie für das Nachrichtenmagazin profil …“ (profil 50/2022)

Ja mei, wer sich mit dem Westen identifiziert, hat damit natürlich den moralisch Kompass intus. So einäugig, einseitig, voreingenommen und parteilich geht übrigens Nationalismus – in dem Fall die supranationale Parteilichkeit für ein ganzes geopolitisches „Lager“, benannt nach einer Himmelsrichtung.

Literatur:

https://www.zeit.de/politik/familie/2022-05/humanitaere-krisen-ukraine-krieg-berichterstattung-5vor8?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/rueckblick-auf-10-monate-krieg-ukraine

Interview Gustavo Petro: https://www.nachdenkseiten.de/?p=91398

Zum Nachlesen noch zwei Texte aus dem Jahr 2008, ebenfalls zum Stichwort „Aufteilung der Welt“ und zum damaligen Zwischenstand der weltpolitischen Konfrontation. Damals wollte eine Art georgischer Selenskyj, der Mann heißt Saakaschwili, einen Krieg mit Russland vom Zaun brechen, sich so die Unterstützung des Westens ertrotzen, um auf diese Weise sein geliebtes Land voranzubringen. Diese Aufforderung wurde – damals – von den USA abschlägig beschieden. Der zweite Artikel behandelt an eben diesem Fall exemplarisch und ausführlich die Techniken der Meinungsmache in einem (deutschen) Organ, das sich – Überraschung! – auch als Teil des Westens begreift.

https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/konflikt-suedkaukasus

https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/zeit-zum-kaukasuskonflikt

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